Immer wieder steht das duale Ausbildungssystem in Deutschland in der Kritik. Zurzeit beobachte ich, wie insbesondere die Megatrends Digitalisierung und Akademisierung sowie die zunehmende Heterogenität der Ausbildungssuchenden und die stärkere Spezialisierung der Ausbildungsbetriebe Zweifel am Nutzen des dualen Berufsbildungssystem aufkommen lassen.
Da ich mich seit über 20 Jahren eng mit den bildungspraktischen, bildungstheoretischen und bildungspolitischen Feinheiten des dualen Ausbildungssystems befasse und einige grundlegende Veränderungen in dieser Zeit mit anstoßen durfte, freue ich mich, Euch diese kleine Blog-Serie zu den Stärken (Teil 1), Herausforderungen und Alternativen (Teil 2) des dualen Ausbildungssystems präsentieren zu können.
Ein kurzer Blick zurück
Im ersten Teil dieser kurzen Blog-Serie habe ich euch etwas zur Geschichte der dualen Ausbildung berichtet und Euch die sechs wesentlichen Stärken des System erläutert:
- Lernortkooperation
- Berufsprinzip
- Marktnähe
- Konsensprinzip
- einheitliche Gesellenprüfung
- renditeorientierte Finanzierung
In diesem zweiten Teil werde ich über einige aktuelle Herausforderungen des dualen Ausbildungssystems in Deutschland schreiben. Darüber hinaus werfe ich noch einen kurzen Blick auf alternative Ausbildungssysteme.
Herausforderungen des dualen Ausbildungssystems
1. Anpassungsgeschwindigkeit
Als ich mich Ende der 1990er Jahre erstmals mit der Frage der Dauer von Verfahren zur Aktualisierung einer Ausbildungsordnung befasste, lag diese bei deutlich über zehn Jahren.
Vom ersten Impuls – meistens aus den Reihen der Sozialpartner – bis zur Veröffentlichung der Ausbildungsordnung vergingen mehr als drei Ausbildungsgenerationen.
Nicht zuletzt aufgrund von neuen Methoden zur Qualifikationsfrüherkennung konnte Anfang der 2000er die Dauer der Verfahren erheblich reduziert werden. Aber mit immer noch deutlich mehr als fünf Jahren, ist die Anpassungsgeschwindigkeit immer noch eine der großen Schwächen des dualen Ausbildungssystems.
Eine der Antworten auf diese Herausforderung ist der Einsatz von zukunftsoffenen und technikneutralen Formulierungen bei der Beschreibung der Ausbildungsinhalte in den Ausbildungsordnungen. Leider führt dies aber dazu, dass die Formulierungen sehr abstrakt sind und in der Regeln von den Ausbildungsbetrieben interpretiert und für den Ausbildungsalltag übersetzt werden müssen.
„Insbesondere in den Zeiten der digitalen Transformationen und des damit beschleunigten Strukturwandels müssen wir Prozesse definieren und Methoden entwickeln, die eine noch schnellere Anpassung von Ausbildungsinhalten und -methoden im dualen Berufsbildungssystem ermöglichen.“
Dr. Michael Hoffschroer
2. Image
Insbesondere Anfang der 2000er Jahre war der Ausbildungsmarkt durch einen großen Überhang an Nachfrage geprägt. Viel mehr Jugendliche drängten in eine Ausbildung als Betriebe Ausbildungsplätze anboten.
Diese Struktur hatte erhebliche negative Auswirkungen auf die Qualität der Ausbildung. Denn defacto wurde jeder Ausbildungsplatz genommen, den irgendein Betrieb anbot.
Gleichzeitig entstand bei vielen Auszubildenden das Gefühl, dass man sie eigentlich nicht brauchte, nur aus kurzfristigen Überlegungen beschäftigte, als günstige Arbeitskräfte einsetzte und an einer Übernahme nach der Ausbildung kaum interessiert war.
Gekoppelt mit dem gesellschaftlichen Trend zur formellen Höherqualifizierung, einer Öffnung der Hochschulen und der Einführung berufsqualifizierender Studiengänge (Bachelor) führte dieser Qualitätsverlust in der dualen Ausbildung dazu, dass immer mehr Jugendliche einen akademischen Bildungsweg einschlugen.
„Das Image der dualen Ausbildung kann nur dadurch verbessert werden, dass alle Beteiligten auf eine klare Qualitätsstrategie setzen, die Stärken des dualen Ausbildungssystems aktiv stärken, dabei den jeweiligen Nutzen für die Beteiligten betonen und auf die Herausforderungen gemeinsame Antworten finden.“
Dr. Michael Hoffschroer
3. Finanzierung im Berufsschulsystem
In Niedersachsen liegt die Beschulungsquote in den Berufsschulen deutlich unter der in den allgemeinbildenden Schulen. Insbesondere im ländlichen Raum fehlen Lehrer, um die rahmenlehrplankonforme Beschulung der Auszubildenden zu gewährleisten.
Hinzu kommt, dass die Finanzierung der Berufsschulen in erheblichem Maße von den Möglichkeiten der Schulträger abhängt. In der Regel sind dies in Niedersachsen die Landkreise und kreisfreie Städte, die zum Teil aufgrund angespannter Haushaltssituationen nicht im notwendigen Maße in die Berufsschulinfrastruktur investieren können. Und dies in Zeiten, in denen insbesondere in den westlichen Bundesländern viele Berufsschulgebäude in die Jahre gekommen sind und der technologische Wandel erhebliche Investitionen in die Ausstattung erforderlich macht.
Auch wenn das duale Ausbildungssystem vom Grundsatz her ein vom Bund organisiertes und zu verantwortendes System ist, zeigt sich hier, dass wir von föderalen Entscheidungen auf Landes- und kommunaler Ebene abhängig sind.
„Die Länder und Kommunen müssen ihre Verantwortung für die Qualität der dualen Ausbildung wahrnehmen und eine flächendeckende Sicherung der Beschulung auf dem Niveau der allgemeinbildenden Schulen sicherstellen!“
Dr. Michael Hoffschroer
4. Differenzierungsmöglichkeiten
Der Zugang zur dualen Ausbildung hängt nicht von einer formellen Qualifizierung ab. Jeder, der einen Ausbildungsbetrieb von sich überzeugt, kann unabhängig von seinem Schulabschluss einen Ausbildungsvertrag abschließen.
Dieser diskriminierungsfreie Zugang ist aber nur vermeintlich eine Stärke des dualen Ausbildungssystem. Denn die Folge davon ist, dass sowohl der schwache Förderschüler als auch der leistungsstarke Abiturient mit den gleichen Anforderungen und den gleichen Strukturen konfrontiert wird.
Weder in der Berufsschule noch in den Prüfungen sind entsprechende Differenzierungsmöglichkeiten vorgesehen.
Und auch wenn heute Förderunterricht und Zusatzqualifikationen, Stufenausbildungsmodelle und binnendifferenzierte Unterrichtsmethoden, Lehrzeitanpassungen oder überbetriebliche Unterweisungen genutzt werden, um den unterschiedlichen Voraussetzungen der Auszubildenden gerecht zu werden, sind fehlende Differenzierungsmöglichkeiten für mich eine der großen Herausforderungen der dualen Ausbildung.
Einerseits führt dies nämlich dazu, dass wir die Leistungsschwächeren mit der Komplexität und Kompliziertheit der Ausbildungsinhalte überfordern und sie dementsprechend häufig die Ausbildung abbrechen oder die Prüfungen nicht oder nur mit schlechten Noten bestehen.
Andererseits sind viele leistungsstarke Auszubildende zum Beispiel im Berufsschulunterricht schnell gelangweilt, fühlen sich ausgebremst und streben deshalb in Systeme, in denen sie sich auch ausbildungsmethodisch besser aufgehoben fühlen.
Deshalb glaube ich, dass wir zu einem System kommen müssen, das für eher praxisbegabte Auszubildende eine inhaltlich weniger komplexe Ausbildung (Niveau 3 im Deutschen Qualifikationsrahmen) mit einer Dauer von drei bis dreieinhalb Jahren ermöglicht. Und die mit dem Ausbildungsabschluss einen vollwertigen Zugang zur nächsten Stufe des Berufslaufbahnkonzeptes ermöglicht.
Das heutige Modell der zweijährigen, theoriegeminderten Berufe sollte dabei ausdrücklich nicht als Vorbild für die Zukunft dienen, da dies offensichtlich die Herausforderung der notwendigen Differenzierung nicht zu lösen vermag.
Mit derselben Ausbildungsdauer von drei bis dreieinhalb Jahren wird es leistungsstärkeren Auszubildenden dann möglich sein, einen komplexen Ausbildungsberuf auf dem Niveau 4 der heutigen Ausbildungsabschlüsse (Niveau 4 des Deutschen Qualifikationsrahmens) zu erreichen und die damit verbundenen Anschlussmöglichkeiten zu nutzen.
„Die Einführung weiterer, verbindlicher und systematischer Differenzierungsmöglichkeiten bei der Beschulung und Prüfung im dualen Ausbildungssystem wird entscheidend dafür sein, ob wir sowohl für leistungsstarke als auch praxisbegabte Jugendliche attraktiv bleiben!“
Dr. Michael Hoffschroer
Alternative Ausbildungssysteme
Insbesondere im internationalen Vergleich zeigen sich Alternativen zu dem deutschen dualen Ausbildungssystem. In diesem letzten Kapitel der kurzen Blog-Serie zur dualen Ausbildung will ich daher knapp auf drei andere Formen von Ausbildungssystemen eingehen:
1. Modulare Ausbildung
Diese Grundform der Ausbildung prägt das System im Vereinigten Königreich. Über in verschiedene institutionelle Organisationsformen eingebettete Kurse und Lehrgangssysteme (Module) baut man sich ein individuelles berufliches Kompetenzprofil zusammen.
Die beruflichen Befähigungsnachweise auf dem Niveau 1 (einfache Routineaufgaben) bis Niveau 5 (Führungs- und Aufsichtsaufgaben), sind an den am Arbeitsplatz geforderten Kompetenzstandards ausgerichtet.
Die Ausbildung erfolgt dabei in einzelnen Abschnitten, die jeweils in sich abgeschlossen sind, eine eigene Qualifizierung beinhalten und einzeln zertifiziert werden (Module).
Diese Module ergänzen sich nach dem Baukastenprinzip in vielen Fällen zu einem Berufsabschluss. Es gibt aber jenseits der Module keine übergeordneten Vorgaben zu Ausbildungsorganisation, Ausbildungsmethoden, Lehrplänen oder Prüfungen. Abschlüsse oder Zertifikate werden von verschiedenen Bildungsträgern vergeben.
2. Training on the job
Das US-amerikanische Berufsbildungssystem ist unterhalb der College-Ebene im wesentlichen dadurch geprägt, dass die Arbeitnehmer während ihrer beruflichen Tätigkeit (training on the job/learning by doing) qualifiziert werden.
An weiterführenden Schulen und Universitäten gibt es zwar berufsvorbereitende Bildungsgänge, diese führen aber regelmäßig nicht zu anerkannten Abschlüssen.
Staatliche Vorgaben im Sinne verbindlicher Ausbildungsstandards gibt es nicht. Die Qualifizierung erfolgt rein betrieblich, auf den jeweiligen Einsatzzweck hin orientiert. Eine Zertifizierung der Anlerntätigkeiten ist nicht vorgesehen. Damit übernehmen die Betriebe auch die vollen Kosten für die Ausbildung ihrer Mitarbeiter.
In Kombination mit häufigen Arbeitsplatzwechseln können auch angelernte Arbeitnehmer in einem solchen System das Kompetenzniveau eines Facharbeiters erlangen. Häufig sind hierzu innerbetriebliche Ausbildungssysteme vorhanden, die das Fehlen staatlicher Vorgaben betriebsintern ausgleichen.
3. Vollzeitschulische Ausbildung
Das französische Ausbildungssystem kann als Beispiel für ein von staatlichen Berufsschulen und Universitäten geprägtes, vollzeitschulisches System aufgeführt werden.
In diesen Systemen übernimmt der Staat die wesentlichen Ausbildungskosten und organisiert die Qualifizierung in (Hoch-)Schulstrukturen. Schulen oder Universitäten vermitteln also berufsqualifizierende Abschlüsse in entsprechenden staatlichen Bildungsgängen.
Dabei sind die Abschlüsse auf verschiedenen Niveaustufen miteinander über die (Hoch-)Schulstrukturen und ein entsprechendes Anerkennungs- und Berechtigungssystem durchlässig verzahnt.
Regelmäßig werden dabei im Lehrplan allgemeinbildende mit berufsspezifischen Inhalten verbunden. Die Berufsinhalte werden in den Schulen sowohl theoretisch als auch praktisch vermittelt.
Zusätzlich arbeiten die Schüler gemeinsam an Projekten, in denen sie die allgemeinen und berufsbezogenen Lerninhalte konkret anwenden. Unter Umständen werden auch Betriebspraktika in den Lehrplan integriert.
Fazit
Das duale Ausbildungssystem ist insbesondere aufgrund der engen Verzahnung der unterschiedlichen Lernorte sehr effizient in der Vermittlung von beruflichen, überbetrieblichen Qualifikationen. Die große Markt- und Betriebsnähe trägt in erheblichem Maße zur niedrigen Jugendarbeitslosigkeit bei.
Dennoch steht das duale Ausbildungssystem nicht zuletzt aufgrund veränderter Rahmenbedingungen und alternativer Ausbildungsmodelle vor der Herausforderung, die nicht ohne weitreichende Anpassungen zu bewältigen sein werden.
Am Ende, da bin ich mir sicher, wird es uns aber gemeinsam gelingen, ein zukunftsfähiges, duales Ausbildungssystem in Deutschland zu erhalten und ggf. sogar als Alternative in noch mehr Ländern dieser Welt anzubieten.